Cover
Titel
A Class by Themselves?. The Origins of Special Education in Toronto and Beyond


Autor(en)
Ellis, Jason
Erschienen
Toronto 2019:
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
$ 80.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jona Garz, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Motiviert durch eine Kritik am derzeitigen Forschungsstand sonderpädagogischer Geschichtsschreibung, die sich zu oft auf Pionier:innen und Wohltäter:innen fokussiert habe, legt Jason Ellis eine Studie vor, deren Ziel es ist, die heterogenen Akteur:innen, Beweggründe, Kettenreaktionen und unwahrscheinlichen Allianzen, die es brauchte, um ein Sonderschulsystem durchzusetzen und zu verteidigen, sichtbar zu machen. Damit zählt die Studie von Ellis zu einer Reihe von Veröffentlichungen, die unter dem Label Disability History auf eine andere Geschichte von Behinderung zielen – eine Geschichtsschreibung, die mit der Prämisse einer (historischen) Kontingenz der Kategorie Behinderung hantiert. Historische Entwicklungen sollen auf ihren Beitrag zur Konstruktion von Behinderung befragt werden. Derlei Studien, viele davon aus dem angelsächsischen Raum, hatten bislang ihren Schwerpunkt auf der Analyse einzelner Diagnosen, Anstalten oder der nationalen Entwicklung von Fürsorgeinstitutionen für behinderte Menschen.1

Jason Ellis liefert nun eine lokalgeschichtliche Untersuchung der Entstehung eines Sonderschulsystems am Beispiel der Stadt Toronto. Seine Studie, eine grundlegend überarbeitete Version seiner Dissertation, ist aufgeteilt in sechs Kapitel, die jeweils eigene Zeitspannen und die damit verbundenen Neuerungen der Beschulung und Behandlung behinderter Kinder in Toronto in den Fokus rücken und den Zeitraum zwischen 1910 und 1940 abdecken. Neben psychologischen, medizinischen und pädagogischen Veröffentlichungen der Zeit stützt Ellis sich auf einen beeindruckenden Quellenbestand des Toronto District School Board, der neben Sitzungsprotokollen des Boards mehr als 17.000 Schüler:innenakten von drei verschiedenen Primarschulen und deren Hilfsklassen umfasst.

Den Ursprung der Hilfsklassen (auxiliary classes), die ab 1910 in Toronto eingerichtet wurden, verortet Ellis in einem Zusammentreffen eugenischer Überzeugungen, der als Problem identifizierten hohen Zahl an Sitzenbleiber:innen sowie einer stabilen Kinderrettungsbewegung (child saving movement). „Schwachsinn“ war für die Eugeniker:innen des frühen 20. Jahrhunderts ein vererbtes Problem, das, wie Ellis zeigen kann, durch Absonderung der Betroffenen und der damit einhergehenden Verhinderung der Fortpflanzung gelöst werden sollte. Die Auswahl der zu isolierenden Kinder sollte, so die Forderung der Eugeniker:innen, mittels Hilfsklassen geschehen. Ellis kann anhand von Protokollen und Treffen zwischen Eugeniker:innen, Schulverwaltung und Wohltätigkeitsvereinen zeigen, wie diese drei Gruppen, so unterschiedlich und zum Teil auch widersprüchlich ihre zugrundeliegenden Interessen waren, sich für die Einrichtung von Hilfsklassen einsetzten: die Eugeniker:innen, weil sie eine Absonderung derjenigen Kinder wollten, die an der Fortpflanzung gehindert werden sollten, die Schulverwaltung, um das Problem der Sitzenbleiber:innen zu lösen, und die Wohltätigkeitsvereine, die sich die Kinderrettung auf ihre Fahnen geschrieben hatte und diese mittels kleiner Sonderklassen zu realisieren sah. Für die Schulverwaltung, so Ellis, war die eugenische Lehre der Vererbung des Schwachsinns das Argument, das es ihr ermöglichte, Kinder, die in der Schule zurückblieben, als unheilbar und grundsätzlich anders zu markieren und für sie eine Sonderbeschulung durchzusetzen.

In Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zur Geschichte der Intelligenztestung in Schulen zeigt Ellis im zweiten Kapitel die einschneidenden Effekte, die der Stanford-Binet-Test im Laufe der 1920er-Jahre auf die Organisation der Sonderbeschulung hatte. Anhand der quantitativen Auswertung der Schüler:innenakten kann er zeigen, wie es durch die Testung ganzer Jahrgänge von Schüler:innen mit Stanford-Binet zur Herstellung eines als durchschnittlich verstandenen Intelligenzquotienten kam. In der Folge war es die Abweichung nach unten, ein IQ unter 80, die zum wichtigsten Kriterium der Überweisung in Sonderschulen wurde. Trotz Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand fehlt hier überraschenderweise John Carsons Studie zur Geschichte der Intelligenztestung in den USA und Frankreich.2 Dessen zentrales Argument, dass in Nord-Amerika die IQ-Testung und damit verbundene Vorstellungen von Leistung eine Neuordnung des Bildungssystems entlang dieses Kriteriums zur Folge hatte, nimmt im Grunde das Ergebnis von Ellis' Forschung vorweg. Anhand der quantitativen Auswertung der Schüler:innenakten kann Ellis zeigen, dass in dem Maße, in dem der IQ als Überweisungskriterium in die Sonderschulen an Bedeutung gewann, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse oder Ethnie an Bedeutung verlor.

Kapitel 3 und 4 verfolgen die Ausweitung des Hilfsschulsystems, das sich, nicht nur in Toronto, zusehends spezialisierte: Es wurden eigene Hilfsklassen für sehbeeinträchtigte Kinder, Sprach- und Hörgeschädigte sowie für Kinder mit körperlichen Behinderungen eröffnet und zudem, in Reaktion auf die Heraufsetzung des schulpflichtigen Alters, Fortbildungsschulen für sogenannte anormale Jugendliche eingerichtet. Neben der Beschreibung der institutionellen Neugründungen liefern beide Kapitel eine statistische Auswertung der Schülerpopulationen der neuen Institutionen nach Ethnie, Klasse und Geschlecht, wobei nicht klar wird, inwiefern diese Auswertung zum Argument der Ausweitung und Spezialisierung des Hilfsschulsystems beiträgt.

Die letzten zwei Kapitel behandeln die „Entdeckung“ der „special-subject disabilities“ in den 1940er-Jahren, in deren Folge sich die Behandelbarkeit spezifischer Einschränkungen entwickelte. Ellis' Versuch, diese Entwicklung auf Lokalisationstheorien zurückzuführen, die sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, mithin 100 Jahre früher, durchsetzten3, ist wenig überzeugend, nicht zuletzt wegen der eklektischen Auswahl von Quellen und Sekundärliteratur. Dennoch kann Ellis zeigen, wie sich in Pädagogik und Psychologie ein Wissen etablieren konnte, dass Kinder verzögert lesen und schreiben lernten, ohne dass dabei notwendigerweise auf einen niedrigen IQ geschlossen werden musste. Dies trug laut Ellis dazu bei, dass die bis in die 1940er-Jahre dominierende Vorstellung des IQ als statischer Grösse, auf die sämtliche Lernschwierigkeiten zurückzuführen seien, zusehends verschwand und stattdessen die Bedeutung von Umweltfaktoren für die Entwicklungsfähigkeit des Kindes in den Blick rückte.

Über das ganze Buch hinweg ist die gelungene Verortung in der bisherigen Forschungsliteratur zu Beginn eines jeden Kapitels hilfreich und liefert einen guten Überblick über Studien zur Sonderschulgeschichte Nordamerikas. Teilweise erscheint dieses Vorgehen etwas bemüht und läuft hin und wieder auf ein Überprüfen von bekannten Thesen an neuem Material hinaus.

Was der Studie am stärksten gelingt, ist die Kontingenz schulpolitischer Entscheidungen aufzuzeigen, wie abhängig sie von zum Teil zufälligen Koalitionen waren, wie nicht gelingende Versuche stillschweigend abgeschafft und andere Einrichtungen weiter ausgebaut wurden. Dafür braucht es die lokalgeschichtliche Perspektive, auch wenn es Ellis nicht immer gelingt, die Vorteile dieses Ansatzes zu nutzen. Im Bemühen, die lokalen Entwicklungen an den nordamerikanischen Diskurs um Eugenik, Behinderung, Migration oder (Sonder-)Pädagogik rückzubinden, verliert Ellis bisweilen den Fokus auf die kleinteiligen Entscheidungen städtischer Verwaltung. So wäre beispielsweise eine Untersuchung des Verwaltungsvorgangs der Überweisung, die Untersuchung der beteiligten Akteure oder auch eine qualitative Auswertung der zahlreichen Schüler:innenakten sicherlich eine Bereicherung gewesen, anstatt ausführlich auf die bereits bekannte Geschichte des Stanford-Binet-Tests und seiner Wirkung auf nordamerikanische Schulpolitik einzugehen. Die quantitative Auswertung der Akten wirkt nicht auf der Höhe methodologischer Debatten, wie sie seit geraumer Zeit nicht zuletzt in der Medizingeschichte geführt werden.4

Insgesamt bleibt der Wunsch, dass Ellis die Reichhaltigkeit des ihm zur Verfügung stehenden Quellenmaterials besser genutzt und es nicht nur quantitativ ausgewertet oder daran bereits bekannte Thesen überprüft hätte. Dennoch liefert Ellis eine solide Sozialgeschichte der Entstehung des Sonderschulsystems der Stadt Toronto, die es schafft, die Entwicklungen eines lokalen Schulsystems zu Veränderungen eines breiteren Diskurses in Psychologie und Pädagogik ins Verhältnis zu setzen.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. James W. Trent, Inventing the Feeble Mind. A History of Mental Retardation in the United States, Berkeley 1994; Scot Danforth, The Incomplete Child. An Intellectual History of Learning Disabilities, New York 2009; David Wright / Anne Digby (Hrsg.), From Idiocy to Mental Deficiency. Historical Perspectives on People with Learning Disabilities, London 2014.
2 John Carson, The Measure of Merit. Talents, Intelligence, and Inequality in the French and American Republics, 1750–1940, Princeton 2018.
3 Vgl. u.a. Georges Canguilhem, Gehirn und Denken, in: Gerd Hermann (Hrsg.), Grenzen medizinischer Rationalität. Historisch-epistemologische Untersuchungen, Tübingen 1989, S. 7–40; Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt am Main 2000.
4 Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl an Veröffentlichungen Cornelius Borck / Armin Schäfer (Hrsg.), Das psychiatrische Aufschreibesystem. Notieren, Ordnen, Schreiben in der Psychiatrie, München 2015; Michaela Ralser, Das Subjekt der Normalität. Das Wissensarchiv der Psychiatrie. Kulturen der Krankheit um 1900, München 2010; Yvonne Wübben / Carsten Zelle (Hrsg.), Krankheit schreiben. Aufzeichnungsverfahren in Medizin und Literatur, Göttingen 2013.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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